I.5 Überlagerung von Präzession und Nutation

 

I.5.1 Qualitative Diskussion

der Überlagerung von Präzession und Nutation ## Klein/Sommerfeld bezeichnen diese als pseudoreguläre Präzession. ##

 

Bezeichnen wir die Projektion des Impulsvektors L auf die Figurenachse weiterhin als Lz und die auf die raumfeste Vertikale als LV. Die Impulskomponente Lz (Eigenimpuls) bestimmt die Geschwindigkeit w z (Eigenrotation), mit welcher sich der Kreisel um seine eigene Achse dreht. Die Impulskomponente LV stellt einen Drehstoß mit vertikaler Achse dar, welcher einem auf die Kreiselspitze ausgeübten und horizontal gerichteten "gewöhnlichen" Stoß äquivalent ist. Durch diesen Stoß wird die Geschwindigkeit bedingt, mit der die Kreiselspitze in ihrer Anfangslage seitlich (in horizontaler Richtung) fortschreitet — daher können wir die Impulskomponente LV kurz als "seitlichen Anstoß" bezeichnen. Die Neigung der Figurenachse gegen die Vertikale messen wir weiterhin mit dem Winkel q .

 

Nach der Poinsotschen Theorie hätten wir uns in erster Linie den Ort des momentanen Drehvektors w im Körper und im Raum klar zu machen. Die Gestalt dieser Polhodie- und Herpolhodiekurve lieferten uns dann ein vollständiges Bild der Bewegung. Indessen ist es nicht leicht, sich das Abrollen dieser Kurven deutlich zu vergegenwärtigen; außerdem ist im Experiment der Ort der Drehachse w schwer sichtbar. Sinnvoller ist die Beschreibung des Ortes der Figurenachse im Raum (vgl. Heimversuch III "Bleistiftversuch"). Infolgedessen wollen wir danach fragen, welche Kurve irgendein Punkt der Figurenachse — z. B. derjenige, welcher von 0 den Abstand 1 hat — bei der Bewegung beschreibt. Indem wir uns vorstellen, daß der mit Masse belegte Teil der Figurenachse (s. Kleinscher Kreisel) gerade die Länge 1 hat, werden wir den genannten Punkt als Kreiselspitze ## Vorsicht: mit Kreiselspitze wird von manchen Autoren der Auflagepunkt bezeichnet. ## bezeichnen. Die von der Kreiselspitze beschriebene Kurve auf der Einheitskugel liefert ein anschauliches Bild der Bewegung, wenn auch die Drehung des Kreisels um die Figurenachse dadurch nicht dargestellt wird.

 

Im vorhergehenden Kapitel schilderten wir die Präzession wie folgt:

Der Kreisel rotiere anfangs um die Figurenachse ?? Klein/Sommerfeld Bd.2, 1921 §3. ?? , welche irgendwie gegen die Vertikale geneigt sei. Die Figurenachse stellt dann gleichzeitig die Rotationsachse und die Impulsachse dar. Nun kommt der kontinuierliche Zug der Schwerkraft zur Wirkung. Diesem entspricht ein Drehimpuls, welcher senkrecht auf der durch die Figurenachse und Vertikale gegebene Ebene steht und welcher sich mit dem ursprünglichen Drehimpuls nach dem Parallelogramm der Kräfte zusammensetzt.

 

 

Die Diagonale des Parallelogramms ergibt die veränderte Lage der "Achse". Das ist richtig bezüglich der Impulsachse und beim Kugelkreisel auch bezüglich der Rotationsachse. In der Erklärung wurde aber unter "Achse" stillschweigend weiterhin die Figurenachse verstanden ## Der genannte Irrtum ist dem französischen Experimentator Foucault als auch seinem Konkurrenten Sire passiert und findet sich seitdem häufig in der Literatur. ## , für die das Gesagte keineswegs zutrifft. In Wirklichkeit bewegt sich die Figurenachse auf einem Kreiskegel um die jeweils veränderliche Drehachse, welche ihrerseits durch die Lage des Impulses bestimmt ist. Die Folge ist, daß die Figurenachse anfangs keineswegs senkrecht gegen die Richtung der Gravitationskraft ausweicht, sondern sich vertikal nach unten bewegt. Fällt, wie hier vorausgesetzt wurde, die Impuls- und Figurenachse anfangs zusammen, so ist eine reine Präzession unmöglich.

Die Bedingung für eine reine (nutationsfreie) Präzession besteht vielmehr darin, daß Impuls- und Figurenachse in gewisser Weise auseinanderfallen ## Siehe "Exakte Berechnung der Präzession".## , d. h. daß der Figurenachse außer der Wirkung der Gravitationskraft ein bestimmter seitlicher Anstoß LV erteilt wird. In dem Moment, in dem die Figurenachse freigelassen wird, muß die Figurenachse exakt die horizontale Geschwindigkeit haben, so daß die Kreiselwirkung der Gravitationskraft entgegengesetzt gleich ist. Nur dann "fällt" die Kreiselspitze nicht hinunter, sondern bewegt sich auf einem Kreis um die Vertikale. Die Bedingung hierfür (4.7) ist in der "exakten Berechnung der Präzession" Seite 36 hergeleitet, für q  = p gilt (4.2) Seite 33.

 

Nehmen wir für einen Augenblick an, daß die Gravitationskraft nicht wirksam sei. Dann nutiert ein Kreisel, den wir als Kugelkreisel annehmen, mit konstanter Geschwindigkeit um die im Raum feste Impulsachse. Nehmen wir den Öffnungswinkel des Nutationskegels als sehr gering an, so beschreibt die Kreiselspitze auf der Einheitskugel fortgesetzt einen kleinen Kreis. Wir setzen überdies voraus, daß die Impulsachse nicht und auch nicht nahezu mit der Vertikalen zusammenfalle. Die durch die Figurenachse und die Impulsachse gelegten vertikalen Ebenen weichen bei dieser Bewegung nur wenig voneinander ab und können in erster Näherung als eine Ebene betrachtet werden. Betrachten wir hierauf nun die Wirkung der Gravitationskraft. Der Drehimpuls bleibt unter ihrem Einfluß nicht konstant, sondern setzt sich mit dem Drehstoß der Schwere Fg sinq in jedem Moment zusammen.

Die Bewegung des Kreisels besteht natürlich nach wie vor aus einer Nutation um die (aufgrund der Gravitation nicht mehr feste) Drehimpulsachse. Betrachtet man einen genügend kurzen Zeitraum, so kann man wieder vereinfachen:
Die Änderung des Impulses steht auf der durch die Impulsachse (statt auf der durch die Figurenachse) gelegten Ebene senkrecht. Und: Die Änderung des Impulsvektors hat die konstante Größe Fg sin
q 0, wobei q 0 irgend einem mittleren Wert des Winkels q entspricht. Der Endpunkt des Impulsvektors ist also ein mit konstanter Geschwindigkeit durchlaufener Kreisbogen um die Vertikale.

Der Schnittpunkt J des Drehimpulsvektors mit der Einheitskugel verläuft parallel zum Äquator der Einheitskugel. Mit der Vereinfachung |Lz| = |L| findet man für die Tangentialgeschwindigkeit v des Punktes J:

(5.1) v = Fg sinq 0 / Lz.

Die Bahnkurve der Kreiselspitze F (Schnittpunkt der Figurenachse mit der Einheitskugel) ist nun leicht zu bestimmen. Die Kreiselspitze muß, da die momentane Bewegung der Figurenachse aus einer Drehung um den Impulsvektor besteht, ständig senkrecht gegen die Verbindungslinie JF fortschreiten. Mit der Vereinfachung |Lz| = |L| ergibt sich für die Winkelgeschwindigkeit der konstante Wert

(5.2) W Nut = Lz / I.

Durch die letzten Angaben ist die Bahnkurve der Kreiselspitze als Zykloide charakterisiert (Bild 5.2 vgl. Bild 5.1).

Bild 5.2 mit freundlicher Genehmigung des Verlages entnommen aus: Klein/Sommerfeld, Theorie des Kreisels, Bd 2, © 1921 B. G. Teubner Stuttgart und Leipzig.

 

Eine Zykloide wird durch das Abrollen eines Kreises auf einer Geraden erzeugt. Jeder mit dem Kreis fest verbundene Punkt dreht sich mit konstanter Winkelgeschwindigkeit um den jeweiligen Berührpunkt des Rades und schreitet beständig senkrecht gegen die Verbindungslinie mit diesem fort, während der Berührpunkt selbst sich mit konstanter Geschwindigkeit auf der Geraden bewegt.

Bei der Bestimmung der Impulskurve nahmen wir an, daß die Figurenachse sich nur wenig von der Impulsachse entfernt. Die Zulässigkeit dieser Annahme ist unmittelbar nur für den Anfang der Bewegung einleuchtend; sie ergibt sich aus den Anfangsbedingungen. Nun folgt aus dem periodischen Verhalten, daß die anfangs vorhandenen Bedingungen jedesmal nach durchlaufen eines vollen Zykloidenbogens genau wieder vorliegen. Infolgedessen gelten unsere Überlegungen für alle Phasen der Bewegung.

Natürlich erhält man durch obige Überlegungen nur eine angenäherte Darstellung der Bewegung. Genau genommen gilt:

Die Bahnkurve der Kreiselspitze weicht unter den vorliegenden Anfangsbedingungen von einer Zykloide um so weniger ab, je größer der Anfangsimpuls ist und je genauer er der Richtung nach mit der Figurenachse zusammenfällt.

Die Art der Abweichung ist leicht zu sehen: Da die beiden vertikalen Ebenen durch Figurenachse und Impulsachse nicht genau zusammenfallen, wird auch die Impulskurve nicht exakt ein Kreis (gestrichelte Linie in Bild 5.1) bzw. eine Gerade (Bild 5.2). Sie wird sich vielmehr bei der Rotation, je nachdem, ob sich bei der Rotation der Figurenachse um die Impulsachse, die eine Ebene auf der einen oder anderen Seite der jeweils anderen Ebene befindet, sich selbst nach oben oder unten bewegen, wie es im Bild 5.2 durch die punktierte Linie angedeutet ist. Dementsprechend wird auch die Bahnkurve der Kreiselspitze, welche zu dieser gewellten Impulskurve gehört, kleine periodische Verzerrungen gegenüber der Zykloidengestalt aufweisen.

Man könnte die Zykloidenbewegung so erweitern, daß auch diese Glieder zweiter und höherer Ordnung wiedergegeben werden. Hierfür müßte man auf dem abrollenden Kreis wieder einen Kreis abrollen lassen, auf diesem einen nächsten usw. Durch Wahl der Radien und Umlaufgeschwindigkeiten erhält man so ein hinreichend allgemeines Schema, um beliebige Bewegungen mit beliebiger Genauigkeit wiederzugeben. So erscheint die obige Darstellung als erstes Glied einer unendlichen Reihe von Approximationen.

Die Bahnkurve ist i. allg. nicht geschlossen.

 

Zusammenfassend können wir sagen: Der Charakter der allgemeinen Kreiselbewegung hängt im wesentlichen nur von drei Werten zu Beginn der Bewegung (t = 0) ab: vom Winkel q , dem Eigenimpuls Lz und dem seitlichen Anstoß LV.

Die Impulskomponenten LV und Lz halten für den gesamten Verlauf der Bewegung ihre Anfangswerte bei ?? Klein/Sommerfeld, 1921 Bd. 2, §3. ?? , wir können also von den Konstanten LV und Lz sprechen.

F. Klein und A. Sommerfeld leiten in ihren Werken viele Bewegungsformen des Kreisels anhand des Kugelkreisels ab. Ein Kreisel von ungleichen Trägheitsmomenten I1 ¹  I3 durchläuft die gleiche Bahnkurve in der selben Zeit, wie ein Kugelkreisel  ?? Klein/Sommerfeld, 1921 Bd. 2, §2. ?? mit den selben Impulskonstanten Lz und LV.

 

I.5.2 Anschauliche Diskussion der Bewegungsformen eines schweren Kugelkreisels - Übergang vom Pendel zum Kreisel

 

In der sich anschließenden Diskussion werden wir der Konstanten LV alle möglichen Werte erteilen, während Lz durchgehend seine Richtung beibehalten soll (Bild 5.2). Die Figurenachse soll zu Beginn der Bewegung horizontal liegen, der Anfangswert des Winkels q also gleich p /2 sein. Einem positiven LV soll ein Anstoß im Uhrzeigersinn, einem negativen LV ein Anstoß gegen den Uhrzeigersinn entsprechen.

 

Es wird die Bewegung eines Kugelkreisels behandelt, der wie im Kapitel I.2 (Bild 2.1 Seite 20), jedoch mit der Masse m z auf der negativen z-Achse konstruiert ist (vgl. Bild 4.6 Seite 34). Die z-Achse sei als Figurenachse ausgezeichnet.

 

Nach diesen Verabredungen werden wir so vorgehen, daß wir alle möglichen Bewegungsformen des Kugelkreisels zwischen einige besonders einfache Spezialfälle einordnen und uns im übrigen einer Art Kontinuitätsprinzips bedienen: Bei stetiger Änderung des Anfangszustandes (der Werte LV und Lz) wird sich auch die Bewegung des Kreisels stetig verändern. Die folgenden Betrachtungen werden nicht als absolut stringent ## Die quantitative Diskussion findet sich in : Klein/Sommerfeld, 1921, Bd. 2. ## , sondern als plausibel hingestellt. Übrigens sind die folgenden Bilder, nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ richtig gezeichnet.

 

Wir gehen von den Konstanten Lz = LV =0 (Bild 5.3) aus. Der Kreisel bewegt sich wie ein Pendel. Wenn der Kreisel bei horizontal gestellter Figurenachse (Punkt A) der Gravitationskraft überlassen wird, so erzeugt diese während des ersten Zeitmomentes dt einen unendlich kleinen Impulsvektor von der Größe Fg sinq  dt = P dt, welche die Knotenlinie 0K zur Achse hat. Der Kreisel beginnt sich also um diese Achse zu drehen, wobei sich der Winkel q verkleinert. Die Lage der Knotenlinie wird bei dieser Drehung nicht geändert. Im nächsten Moment wirkt daher die Gravitationskraft um dieselbe Achse; die Drehgeschwindigkeit des Kreisel um diese Achse wird entsprechend beschleunigt. Die Kurve der Kreiselspitze ist ein vertikal gestellter Kreisbogen.

 

 

Die Bahngeschwindigkeit der Kreiselspitze berechnet sich dabei durch die Bedingung, daß die zeitliche Änderung des Impulses gleich der äußeren Drehkraft Fg sin q ist. Nach Überschreitung des höchsten Punktes sinkt die Kreiselspitze wieder auf die gleiche Höhe - Punkt B auf der Äquatorlinie - hinab, hat dort die Bahngeschwindigkeit 0 und infolgedessen wiederholt sich die Bewegung im umgekehrten Sinne.

In der stereographischen Projektion ## Stereographische Projektion: Die Zeichnung stellt das Bild dar, welches ein im tiefsten Punkt der Einheitskugel (Südpol) befindliches Auge empfängt. Der Äquator erscheint als Einheitskreis, dessen innere Fläche die obere Halbkugel darstellt. ## erscheint die Bahnkurve als ein Durchmesser (AB) des Einheitskreises (Bild 5.3).

 

Geben wir dem Kreisel einen - im Verhältnis zu dem von der Gravitationskraft Fg resultierenden Drehmoment - sehr kleinen Eigenimpuls und lassen den Kreisel wiederum auf dem Äquator am Punkt A frei, so wird der Kreisel aufgrund der Kreiselwirkung abgelenkt und die gerade Linie, durch welche wir in Bild 5.3 die Pendelschwingung darstellten, geht in einen Bogen über (Bild 5.5). Da der Eigenimpuls sehr klein ist, wird die Abweichung des Bogens von der geraden Linie nur sehr gering sein.

Die Bahnkurve der Kreiselspitze stellt in unserem Fall eine Zickzackkurve dar, die entgegen dem Uhrzeigersinn um die Vertikale herumläuft — im allgemeinen ohne sich zu schließen. Sie besteht aus einer Serie kongruenter Bögen (Halbbögen) und ist innerhalb zweier Parallelkreise enthalten — in unserem Fall zwischen dem Äquator und einem Parallelkreis in der Nähe des Nordpols. Letzteren berührt die Kurve, wo sie ihn trifft; auf ersterem sitzt sie mit Spitzen auf.

 

Lassen wir die Größe des Eigenimpulses allmählich wachsen, so wächst proportional dazu die Kreiselwirkung. Dabei wird die Krümmung der einzelnen Bögen, aus denen sich die Kurve zusammensetzt, größer und ihre Spannweite geringer, je größer wir den Wert des Eigenimpulses Lx wählen. Damit entfernt sich der höchste Punkt des einzelnen Bogens immer weiter vom Nordpol; der begrenzende Parallelkreis, welcher die sämtlichen höchsten Punkte der Bögen enthält, muß sich also mit wachsendem Lz erweitern. Die Bilder 5.6 bis 5.8 bringen diese Verhältnisse in drei Schritten zum Ausdruck. In Bild 5.6 ist der Eigenimpuls etwa dreimal, in Bild 5.7 etwa neunmal so groß wie in Bild 5.3. Die Figur 28 stellt den Grenzfall eines sehr großen Lz dar. Während die Bilder 5.6 und 5.7 den Zusammenhang mit Bild 5.3 noch deutlich erkennen lassen, zeigt Bild 5.8 eine Bahnkurve, die von einem kontinuierlich durchlaufenen Kreis nur noch "mikroskopisch" verschieden ist.

 

Während wir bisher den Eigenimpuls des Kreisels schrittweise wachsen ließen, den seitlichen Anstoß aber beständig gleich Null annahmen, werden wir jetzt umgekehrt den seitlichen Anstoß variieren und den Eigenimpuls festhalten.

So entsteht z. B. aus der gewöhnlichen Pendelbewegung in Bild 5.3 durch Hinzufügung eines seitlichen Anstoßes jedesmal ein Fall der Bewegung des sphärischen Pendels, bei welcher sich die Kreiselspitze ebenso verhält wie ein schwerer Massenpunkt, welcher am Ende eines um 0 beweglichen, starren, massenlosen Stabes befestigt ist und bei welchem in seiner Anfangslage ein horizontal gerichteter Anstoß erteilt wird. Dabei lösen sich die Rückkehrpunkte (Spitzen), welche im Bild 5.3 auftraten, in abgeflachte Bögen auf, welche den Äquator berühren. Die Spannweite der Bögen, welche ursprünglich p betrug, wird etwas erweitert.

Auch die Kreiselspitze muß, da sie in ihrer Anfangslage und ebenso in jeder folgenden Lage, in der sie den Äquator erreicht, dem seitlichen Anstoß LV ausgesetzt ist, momentan in Richtung des Äquators fortschreiten.

Gehen wir aus von Bild 5.8, so entsteht bei Hinzufügung irgend eines seitlichen Anstoßes eine Bewegung, welche, im Groben betrachtet, nicht sehr unterschiedlich ist. Hierbei lösen sich die mikroskopisch kleinen Spitzbögen in kleine Schleifen bzw. in abgeflachte Bögen auf, je nachdem, in welche Richtung wir den anfänglichen Anstoß um die Vertikale wirken lassen. Die Beobachtung gibt von dieser Modifikation der Bahnkurve jedoch keine Rechenschaft - der Abstand der Parallelkreise ist zu gering.

Betrachten wir also den Fall eines verhältnismäßig geringen Eigenimpulses, also die Figurenserie, die sich aus Bild 5.5 durch Variation von Lx ergibt. Dafür erteilen wir dem Kreisel in der Anfangslage zunächst einen Anstoß entgegen dem Uhrzeigersinn.

Für den Fall des hier betrachteten Kugelkreisels (I = Ix = Iy = Iz)

mit W Prä = LV/I und w z = Lz/I muß sich nach I.4.2 (Kapitel "Präzession") für

 

(5.3) die nutationsfreie Präzession einstellen (Bild 5.11).

 

Die Bahnkurve der Kreiselspitze wird in diesem Fall einfach der entgegen dem Uhrzeigersinn durchlaufene Äquator (Bild 5.11). Der Vergleich der Bilder 5.5 und 5.11 liefert uns einen Anhalt, um die Gestalt der Bahnkurve für die dazwischen liegenden Werte von LV [0 > LV > IFg/Lz] beurteilen zu können. Auf das Kontinuitätsprinzip und obige Überlegungen gestützt, setzten wir voraus, daß die allgemeinen Symmetrieverhältnisse der Bahnkurve 5.5, die Kongruenz der Teilbögen usw. bei Hinzufügung eines seitlichen Anstoßes erhalten bleiben. In Bild 5.5 sind die einzelnen kongruenten Kurvenbögen zwischen dem Äquator und einem kleineren Kreis in der Nähe des Äquators enthalten. In Bild 5.11 ist dieser zweite Parallelkreis mit dem Äquator zusammengefallen, da die Bahnkurve selbst in diesen übergegangen ist. Infolgedessen werden sich die Teilbögen der Bahnkurve nach dem Äquator hin ausbauchen und gleichzeitig in die Länge strecken. Überdies ist klar, daß sich - ebenso wie beim sphärischen Pendel - die Spitzen des Bildes 5.5 in abgeflachte Bögen auflösen, da ja überall dort, wo die Kreiselspitze den Äquator erreicht, der tangential wirkende Anstoß LV wirksam ist. Daraufhin entstehen die Bilder 5.9 und 5.10, von denen das erste einem kleineren Wert des seitlichen Anstoßes entspricht, so daß die Kontinuität mit Bild 5.5 klar wird (es wurde speziell LV = -Lz gewählt) und das zweite einem größeren Wert von LV entspricht (Lv = -5 Lz). Die reine Präzession in Bild 5.11 tritt unter den in der Zeichnung zu Grunde gelegten Verhältnissen bei Lv = -25 Lz auf.

Wir gehen nun abermals zu Bild 5.5 zurück und lassen jetzt den seitlichen Anstoß im Sinne des Uhrzeigers wachsen. Jetzt verengt sich der innere Parallelkreis zunächst und die Spannweite der Bögen nimmt zunächst ab. Im übrigen bleibt der Gesamtcharakter der Bewegung ein ähnlicher wie in Bild 5.5. Insbesondere muß die Bahnkurve bei genügend kleinem LV (im Uhrzeigersinn) gleichfalls im Ganzen betrachtet entgegen dem Uhrzeigersinn um die Vertikale herumlaufen. Andererseits wird sich aber die Kreiselspitze in der Anfangslage und ebenso in jedem späteren Moment, wo sie den Äquator erreicht, in der Richtung des Äquators und zwar im Uhrzeigersinn bewegen. Wir schließen hieraus, daß es auf jedem Teilbogen Punkte geben muß, wo die Kreiselspitze, in radialer Richtung fortschreitend, ihren Umlaufsinn um die Vertikale ändert und erkennen so die Notwendigkeit des Auftretens von Schleifen.

Die Spitzen des Bildes 5.5, welche in Bild 5.9 in abgeflachte Bögen übergingen, lösen sich also jetzt in Schleifen auf. Diese Betrachtungen werden in Bild 5.12 (LV = 0,4 Lz) bestätigt. Wenn wir jetzt LV weiter wachsen lassen, kommen wir bald zu einem Wert, wo sich der innere Parallelkreis auf den Nordpol der Einheitskugel zusammengezogen hat (Bild 5.13). Dieser Fall entspricht dem Wert LV = Lz. Die Punkte, in denen sich der Umlaufsinn ändert, sind nun auf den Nordpol zusammengerückt.

Um die Gestaltung der Bahnkurven bei fortgesetzt wachsendem LV zu überblicken, ziehen wir endlich den Grenzfall LV = ¥ heran, bei welchem die Bewegung wieder eine reine Präzession wird (Bild 5.15), die wir schnelle Präzession nennen. Hier fällt der innere Begrenzungskreis wieder mit dem äußeren Begrenzungskreis zusammen. Aufgrund des Kontinuitätsprinzips folgern wir wieder, daß der innere Parallelkreis bei wachsendem Wert von LV [Lz < LV < ¥ ] sich stetig erweitern wird. Während er aber vorher von der Bahnkurve von außen berührt wurde, wird er nun von dieser erfaßt. Die Kurve läuft jetzt durchweg im Uhrzeigersinn und zwar bei wachsendem LV mit wachsender Geschwindigkeit um die Vertikale. Sie wird durch den wachsenden inneren Parallelkreis an den Äquator gedrängt und die Spannweite der Bögen, aus denen sie sich zusammensetzt, wird zunehmend größer (Bild 5.14 zeigt die Bahnkurve für LV = 5 Lz). Der Grenzfall LV = ¥ , die schnelle Präzession, ist schematisch im Bild 5.15 angedeutet. Dem doppelten Sinn des Pfeiles entsprechend können wir Bild 5.15 als Grenzfall der Bahnkurve bei unendlich wachsendem positivem als auch negativem LV auffassen. Es bleibt noch der Übergang von der langsamen Präzession in Bild 5.11 zu der schnellen in Bild 5.15 zu klären. Wir sahen, daß sich der bewegliche Parallelkreis mit abnehmendem LV > IFg/Lz dem Äquator nähert, um im Falle der reinen Präzession mit diesem zusammenzufallen. Bei weiter wachsendem L (gegen den Uhrzeigersinn) wird er seine Ausbreitungsrichtung beibehalten, sich also auf die südliche Hälfte der Einheitskugel bzw. im stereographischen Bild in das Äußere des Einheitskreises begeben. Dementsprechend würde im Bild fortan der Äquator der innere, der bewegliche Parallelkreis der äußere Begrenzungskreis werden. Diese Tendenz hält nicht lange vor: Nachdem ein gewisses LV erreicht worden ist, strebt der Parallelkreis wieder dem Äquator zu, mit dem er bei LV = -¥ wieder zusammenfällt. Aber selbst in der genannten extremen Lage liegt der Parallelkreis unter den in den Bildern vorausgesetzten Verhältnissen dem Äquator so nahe, daß er mit dem Auge nicht von ihm zu unterscheiden ist. Im stereographischen Bild umschließt die Bahnkurve den Äquator nahezu kreisförmig und wird, den großen negativen Werten von LV entsprechend, gegen den Uhrzeigersinn mit großer Geschwindigkeit durchlaufen.

 

Beim Anstieg von LV wurde in der obigen Diskussion immer ein kleiner Eigenimpuls Lz des Kreisels vorausgesetzt. Nehmen wir einen größeren Eigenimpuls an, so treten Abweichungen von der vorhin erklärten Serie auf ## Berechnungen in: F. Klein und A. Sommerfeld , Bd. 2. ## .

Zur Übersicht ist in Bild 5.14 LV auf der Abzisse und Lz auf der Ordinate aufgetragen und die vorstehenden Bilder durch Eintragung ihrer Nummer lokalisiert.

 

 

 

Die langsame, reine Präzession bestimmt, wie aus der Formel (5.3) hervorgeht, eine gleichseitige Hyperbel von der eingezeichneten Lage.

 

Im zweiten Band von F. Klein und A. Sommerfeld werden u. a. die Spannweite der Bögen, die Existenz der Spitzen und der Abstand der Parallelkreise (bzw. der maximale und minimale Winkel q ) analytisch hergeleitet.

 

Bilder 5.5 bis 5.13 mit freundlicher Genehmigung des Verlages entnommen aus: Klein/Sommerfeld, Theorie des Kreisels, Bd 2, © 1921 B. G. Teubner Stuttgart und Leipzig.

 

I.5.3 Das effektive Potential ## Honerkamp/Römer, 1993.

Aufgrund der Anschaulichkeit der Ergebnisse, möchte ich diese hier kurz wiedergeben.

 Vgl. Klein/Sommerfeld, 1921 und Goldstein, 1963. ##

 

Die Energie des symmetrischen Kreisels

im Schwerefeld ist die erhaltene Größe

.

Als effektives Potential Ueff erhalten

J. Honerkamp und H. Römer für die

Bewegung des symmetrischen Kreisels

im Schwerefeld:

 

(Vgl. Bild 5.1 Seite 39 und Bild 4.2 Seite 32, sowie Bild 5.15 und 5.16),

 

wobei LV und Lz wie bisher die Komponenten des Drehimpulses L um die Vertikale (Raumsystem) und um die Figurenachse (Körpersystem) sind.

Der Neigungswinkel q der Figurenachse gegen die Senkrechte oszilliert zwischen den Werten q 1 und q 2, die durch E, LV und Lz bestimmt sind.

Da das Drehmoment M = a ´  Fg auf den Kreisel wirkt und dieses senkrecht auf der von der Figurenachse und Vertikalen gebildeten Ebene steht, ändert sich L auch in diese Richtung. Man erhält somit für die Bewegung der Figurenachse um die Vertikale die in Bild 5.16 dargestellten Möglichkeiten.

 

Die Bewegung setzt sich aus drei Anteilen zusammen:

1) Der Präzession des Drehimpulsvektors um die Vertikale.

2) Der Nutationsbewegung der Figurenachse um die Drehimpulsachse.

3) Der Drehung des Kreisels um seine Figurenachse.

 

Alle Möglichen Bewegungsformen sind an dem von mir benutzten Gyroskop eindrucksvoll zu beobachten.

 

Bild 5.16 Courtesy of PASCO scientific, all rights reserved