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Aus den Beispielen dürfte klar werden, daß einzelne Anomalien im
allgemeinen mit dem Hinweis auf die Unzulänglichkeiten der Messung
oder die Nichtberücksichtigung aller Effekte zurückgewiesen werden
können. So reagiert die wissenschaftliche Gemeinschaft im allgemeinen
auch eher gelassen auf das Auftreten von Anomalien und stellt diese
Probleme zurück bis genauere Messungen, ein fortgeschrittenerer
mathematischer Apparat oder weiterführende Ergebnisse aus
Nachbargebieten vorliegen. Ein Vorgehen, wie man es häufig in der
angewandten Mathematik vorfindet und das in vielen Fällen - wenn auch
manchmal erst nach längerer Zeit (z.B. die Lösung der Fermatschen
Vermutung oder des Vierfarben-Problems) - belohnt wird.
Manchmal kann eine Anomalie aber auch zu einer Krise in der zugehörigen
Wissenschaft führen. Dafür gibt es mehrere mögliche Gründe:
Zum einen kann sich eine Anomalie wiederholt vielversprechenden
Eingliederungsversuchen widersetzen, wie dies z.B. bei der
Beschreibung des Lichts als Welle und Korpuskel in der klassischen
Physik geschehen ist. Zum anderen kann eine Theorie durch
adhoc-Modifikationen, derart unhandlich werden, daß für einen geringen
Zuwachs an Exaktheit ein hohes Maß an Komplexitätszuwachs notwendig
ist. Dies geschah z.B. Ende des Mittelalters mit der aristotelischen
irdischen Physik und der ptolemäischen Astronomie, deren
Modifikationen an einer Stelle zumeist Widersprüche an anderen Stellen
hervorriefen, wodurch die Theorie erneut nachgebessert werden mußte.
Dazu können auch äußere Umstände den Brennpunkt des Interesses auf
eine Anomalie lenken. Zu diesen zählen häufig wirtschaftliche Bedürfnisse,
denen die wissenschaftlichen Ergebnisse als Grundlagen dienen, von der
Forderung der Kalendermacher und Astrologen zur Zeit des Kopernikus nach
einer genaueren Astronomie bis zur Erkenntnis, daß die moderne
Informationstechnologie dringend Ergebnisse aus der Informatik und Physik
benötigt.
Wie äußert sich nun eine Krise in einer Wissenschaft? Da durch die
Anomalie die Autorität des Paradigmas untergraben wurde, werden nun
die vormals strikten Regeln der normalen Wissenschaft aufgeweicht. Es
tauchen häufig mehrere konkurrierende Ansätze auf, die das Problem zu
lösen versuchen. Dieser Zustand, den Kuhn im Gegensatz zur normalen
Wissenschaft als außerordentliche Wissenschaft bezeichnet, gleicht
in vielerlei Hinsicht der vorparadigmatischen Periode einer Wissenschaft,
mit dem Unterschied, daß das Gebiet der Betrachtungen durch das Versagen
des Paradigmas auf diesem klar eingegrenzt ist. Die entstehende
Verwirrung wird aber anders als zu vorparadigmatischen Zeiten von den
paradigmatisch geschulten Wissenschaftlern als sehr unangenehm
empfunden. So schrieb z.B. Kopernikus:
``[Die Astronomen waren]... so im Ungewissen, daß sie die ewige Größe des
vollen Jahres nicht abzuleiten und zu beobachten vermögen ... sondern es
erging ihnen so, als wenn jemand von verschiedenen Orten her Hände, Füße,
Kopf und andere Körperteile, zwar sehr schön, aber nicht in der Proportion
eines bestimmten Körpers gezeichnet, nähme und, ohne daß sie sich irgendwie
entsprächen, mehr als ein Monstrum als einen Menschen daraus
zusammensetzte.''
Und Wolfgang Pauli wünschte zur Zeiten der Wirren um die Quantenmechanik,
er wäre ``Filmschauspieler oder etwas Ähnliches und hätte von der Physik
nie etwas gehört''.
Angesichts der wachsenden Ratlosigkeit in der Wissenschaft werden die
Ansätze zur Lösung der Anomalie mit dem Fortschreiten der Krise in Bezug
auf das alte Paradigma immer kühner. Dies läßt sich erneut am
Beispiel der Astronomie belegen: Kopernikus nimmt trotz seines
heliostatischen Weltbildes weiterhin Kreisbahnen für die Planeten
an. Kepler fordert lediglich Ellipsen, bleibt aber der platonischen
Überzeugung treu und Descartes und Newton schließlich brechen
vollständig mit der antiken Tradition und suchen nach Erklärungen auf
tiefer liegenden Ebenen. Der Angriff auf die Fundamente eines
Paradigmas erfolgt dabei letztlich, wenn alle vorhergehenden Versuche, die
Anomalie auf höherer Ebene in den Griff zu bekommen, gescheitert
sind. Es vollzieht sich dann ein Prozeß, der alle Kennzeichen einer
Revolution trägt.
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Tim Paehler
1998-10-04