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Betrachtet man ein modernes Lehrbuch der Physik, so findet man dort zwar
zu jeder wichtigen Formel einen Hinweis, auf welche Person die durch sie
beschriebene Beziehung zurückgeht, weitere historische Details werden jedoch
im allgemeinen zugunsten fachlicher Erklärungen weggelassen. Dies erscheint
zunächst auch sinnvoll, da die Theorie im Einklang mit dem modernen Weltbild
dargestellt werden soll, welches sich von der seinerzeitigen Sicht der
Wissenschaftler oftmals erheblich unterscheidet (So haben z.B. Descartes und
Newton das optische Brechungsgesetz richtig formuliert, jedoch vom modernen
Standpunkt aus falsch erklärt). Es stellt sich dabei aber die Frage, ob die
geschichtliche Sicht gegenüber einer rein fachlich formulierten Darstellung
(der sogenannten rationalen Rekonstruktion) nicht auch Vorteile bietet. Als
solche werden z.B. die folgenden Punkte
betrachtet1:
- Im Hinblick auf ein einheitliches Kulturverständnis genügt es nicht, den
aktuellen Stand einer Wissenschaft zu überblicken, sondern ihre
Entwicklung zumindest so weit zu kennen, daß man die Dynamik des
wissenschaftlichen Fortschritts und seine Verflechtungen mit dem
Individuum und der gesellschaftlichen Entwicklung erkennt.
- Gerade unter didaktischen Gesichtspunkten kann die rationale
Rekonstruktion einer Wissenschaft eine wichtige Frage nicht
beantworten: Welche Sachverhalte sind intuitiv erkennbar und welche
sind von höherem Anspruch? Den Newtonschen Bewegungsgleichungen z.B.
wären sicherlich nicht über 2000 Jahre währende Bemühungen zur
Beschreibungen von Bewegungen vorausgegangen, wenn ihre Bedeutung
so intuitiv wäre, wie sie im Schulunterricht vielfach dargestellt
wird.
Während das erste Argument sich vorwiegend dem weitgehend bekannten
humanistischen Bildungsideal zuordnen läßt, verdient das zweite eine
genauere Betrachtung. Ihm liegt die Idee zugrunde, daß die historische
Entwicklung der Gesellschaft sich mit der geistigen Entwicklung des
Individuums vergleichen läßt oder wie in [Sim86] eindrucksvoll
festgestellt:
``Genau so, wie der menschliche Embryo in neun Monaten die
Entwicklungsgeschichte von vielleicht Milliarden Jahren durchläuft, so
spielt sich - entsprechend beschleunigt - in der Entwicklung der
physikalischen Begriffe eines Kindes die Physikgeschichte ab.''
Diese Hypothese wird vor allem durch die Untersuchungen des
Entwicklungspsychologen (und zeitweise als Wissenschaftshistoriker wirkenden)
Jean Piaget2 an Kindern gestützt, auf die sich auch
Kuhn beruft3:
``Ich sagte zu ihm, von Piagets Kindern hätte ich die Physik des
Aristoteles verstehen gelernt. Er antwortete, durch die Physik des
Aristoteles habe er Piagets Kinder verstehen gelernt...''.
Wir werden auf diesen Zusammenhang in den folgenden Kapiteln noch
zurückkommen.
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Tim Paehler
1998-10-04