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Die Struktur einer wissenschaftlichen Revolution

Was geschieht bei einer Revolution? Eine bestehende Institution wird durch eine neue ersetzt, wobei sich der Übergang nicht innerhalb der durch die Institution festgelegten Regeln vollzieht, sondern durch äußere Faktoren wie Propaganda oder Gewalt entschieden wird. Dies ist auf den Wechsel eines wissenschaftlichen Paradigmas übertragbar; wir wollen die Parallelen genauer untersuchen.
Wie im politischen Bereich ist der Ausgangspunkt einer wissenschaftlichen Revolution für gewöhnlich eine Krise, in der eine wachsende Anzahl von Individuen spürt, daß die vorherrschende Institution nicht in der Lage ist, die - meist durch sie selbst geschaffene - Situation in den Griff zu bekommen. Der zunehmende Verfall der Autorität läßt daraufhin den Grundkonsens der Gemeinschaft schwinden und eröffnet neuen Ideen Spielraum, wobei jedes Individuum für sich entscheiden muß, ob es weiterhin der alten Institution anhängen oder an der Errichtung einer neuen teilhaben will. Dabei ist klar, daß diese Ziele nicht miteinander vereinbar sind, und sich die gebildeten Teilgruppen demzufolge bekämpfen. Der Streit zwischen der Kirche als Vertreter der ersten Gruppe und Galilei als Vertreter der zweiten Gruppe konnte nicht mit einem Kompromiß enden, bei dem beide Seiten ihr Ziel erreichten. Ebenso waren die Argumentationen in diesem Streit nicht miteinander vereinbar, da sie zu verschiedenen Paradigmen gehörten. Die Berufung auf die aristotelisch geprägte Scholastik der Kirche war in den Augen Galileis ebensowenig eine gültige Argumentationsweise, wie die mathematischen Berechnungen und experimentellen Befunde Galileis in den Augen der Kirche.
Der letzte Punkt ist von besonderer Wichtigkeit für die Kuhnsche Wissenschaftstheorie, da hierin ein starker Reibungspunkt zu der vorher üblichen Sichtweise der Wissenschaft besteht: Es gibt keine Möglichkeit, wissenschaftlich über die Vorzüge einer Theorie gegenüber einer anderen zu argumentieren. Dies ist deshalb der Fall, weil die Paradigmen eine unterschiedliche Auffassung vom Begriff der Wissenschaftlichkeit beinhalten. Kuhn bezeichnet das Verhältnis der jeweiligen Argumentationen als ``inkommensurabel'', also als nicht mit gleichem Maß meßbar. Dazu zwei Beispiele:

Wenn die Wahl zwischen zwei Paradigmen nicht nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten zu entscheiden ist, nach welchen Gesichtspunkten wird die Entscheidung dann gefällt? Wie bei einer politischen Revolution erhält letztlich der Kandidat am meisten Zuspruch, dem die wissenschaftliche Gemeinschaft am ehesten die Lösung der heraufbeschworenen Krise zutraut, wobei mit Blick auf die nicht eindeutig beantwortbare Frage nach dem Gegebenen erneut zu betonen ist, daß diese Entscheidung auf subjektiven bzw. gruppendynamischen Phänomenen beruht, die keiner Logik gehorchen, sondern nur im Kontext des geschichtlichen Hintergrundes zu verstehen sind. Es gibt jedoch einige Gemeinsamkeiten bei der Lösung der Krise, die wir betrachten wollen.
Jedes neue Theoriengebäude taucht zuerst in den Ideen eines oder mehrerer Individuen auf. Diese Individuen sind in der Regel jung, und haben noch keine starke Bindung an alte Paradigmen entwickelt. Newton z.B. formulierte seine ersten Ideen des Gravitationsgesetzes, der Infinitesimalrechung und der Bewegungsgesetze im Alter von 24 Jahren, Einstein veröffentlichte seine spezielle Relativitätstheorie mit 26.
Der nun einsetzende Prozeß ist vergleichbar mit der Dynamik einer Lawine: Zunächst werden weitere aufnahmefähige Wissenschaftler von den ersten Ansätzen der ihrer Kollegen überzeugt und verschreiben sich dem neuen Paradigma. Ihre weiter ausgearbeiteten Ergebnisse wiederum überzeugen weitere Wissenschaftler und schließlich wird durch das Anwachsen der wissenschaftlichen Arbeiten unter dem neuen Paradigma die Arbeit unter dem alten Paradigma verdrängt. Da dieser Prozeß sich wie z.B. in der Kopernikanischen Revolution über einen langen Zeitraum erstrecken kann, ist es dabei nicht notwendig, daß alle Wissenschaftler überzeugt werden. Viele Wissenschaftler sind im allgemeinen so stark dem alten Paradigma verhaftet, daß sie gar nicht die Möglichkeit haben, sich von ihm zu trennen. So schätzt Charles Darwin in seinem revolutionären Werk The Origin of Species die wissenschaftliche Gemeinschaft richtig ein, wenn er behauptet:

``Obgleich ich von der Richtigkeit der ... in diesem Werke mitgeteilten Ansichten durchaus überzeugt bin, erwarte ich keineswegs auch die Zustimmung solcher Naturforscher, deren Geist von Tatsachen erfüllt ist, die sie jahrzehntelang von einem entgegengesetzten Standpunkt aus ansahen ... [A]ber ich sehe mit großem Vertrauen in die Zukunft. Junge, aufstrebende Naturforscher werden unparteiisch die beiden Seiten der Frage prüfen können.''

Und Max Planck bemerkt mit Rückblick auf seine wissenschaftliche Laufbahn bedauernd, daß sich wissenschaftliche Wahrheiten nicht durch Überzeugung ihrer Gegner, sondern durch Aussterben derselben durchzusetzen pflegen. Man kann es auch mit Kuhn spitzer formulieren und sagen ``daß derjenige, der auch dann noch Widerstand leistet, wenn die ganze Fachwissenschaft schon konvertiert ist, ipso facto aufgehört hat, ein Wissenschaftler zu sein.


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Tim Paehler
1998-10-04