Als Beispiele für Gestaltwandel in der Wissenschaft führt Kuhn
interessanterweise auch die Ausbildung eines Studenten in einer
bestimmten Wissenschaft an: sieht z.B. ein Student der Medizin zum
ersten mal in seiner Ausbildung ein Röntgenbild eines Brustkorbs, so
fällt ihm das Bild der Rippen und der Wirbelsäule auf. Ein
ausgebildeter Arzt wird darin aber vielleicht eher das für normale Augen
schwach erkennbare Bild der Lunge betrachten und Vermutung über deren
Zustand anstellen, der einem Experten auf dem Gebiet wiederum sogar direkt
ins Auge springen mag. Ebenso sieht ein ausgebildeter Astronom
sicherlich etwas Anderes, wenn er in den nächtlichen Himmel blickt, als
ein Anfänger auf diesem Gebiet. Daß sich dieser Effekt auch auf die
wissenschaftliche Untersuchung überträgt, belegt die Tatsache, daß
in der westlichen Kultur, die durch die Überzeugung geprägt war, daß
die Himmelskörper etwas Ewiges, Unvergängliches darstellten, neue
Sterne und Kometen sehr viel später (z.B. erst durch Tycho Brahe) entdeckt
wurden als in China, wo die herrschende Auffassung Veränderungen im
Kosmos nicht ausschloß.
Auch dieser Zusammenhang findet sich in dem von uns vorrangig betrachteten
Zeitraum der kopernikanischen Wende als Anekdote wieder: Galilei forderte
den bedeutendsten Theologen seiner Zeit, Kardinal Robert Bellarmin
(1542 - 1621) auf, durch das Fernrohr zu sehen, um seine Ergebnisse
mit eigenen Augen nachzuvollziehen. Bellarmin sah jedoch nicht das,
was Galilei sah und konnte so nicht überzeugt werden. Es wäre einfach
zu behaupten, daß Bellarmin sehr wohl dasselbe sah wie Galilei, es
aber nicht glauben oder zugeben wollte (eine solche Überzeugung würde
der gefährlichen Tendenz folgen, ein Urteil darüber fällen zu wollen,
wer in der Geschichte Recht gehabt hat und wer nicht,
tatsächlich kann man aber lediglich feststellen, welche Auffassung
sich durchgesetzt hat, was die Vertreter anderer Auffassungen nicht
automatisch zu Dummköpfen abstempeln muß). Nimmt man jedoch die
Ergebnisse der Psychologie (die man mit dem Selbstexperiment am
Enten-/Kaninchenbild nachvollziehen kann) ernst, so sieht man, daß
Sinneswahrnehmungen höchst abhängig von den persönlichen Erwartungen
und Gedankengängen sind. Nun könnte man sich auf die Objektivität von
Meßergebnissen berufen, die man als von Sinneswahrnehmungen unabhängig
einstuft. Doch auch hier sieht man aus den Betrachtungen zur Anomalie
in 4.2.1, daß Meßergebnisse nicht im theoriefreien Raum auswertbar sind, ja
häufig der experimentelle Aufbau bereits bestimmte Erwartungen
realisiert.
Aus Obigem folgt nun, daß die Welt nicht in objektiven Maßstäben beschrieben oder gemessen werden kann. Folglich ist es legitim, nicht bloß von der Wandlung des Weltbildes, sondern von der Wandlung der Welt an sich zu sprechen.