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Die Unsichtbarkeit der Revolutionen

Wir haben gesehen, daß die Begriffswelt des alten Paradigmas mit der seines Nachfolgers nicht vereinbar ist. Folglich ist es verständlich, daß die wissenschaftliche Gemeinschaft im Bestreben, möglichst effiziente Forschung zu betreiben, das Historische aus ihren Lehrbüchern verbannt. Was an ihre Stelle tritt, ist die geschlossene Darstellung der Begriffswelt des neuen Paradigmas, wobei die Fakten diesem entsprechend geordnet dargestellt werden. Diese ahistorische Beschreibung hat - wie eingangs festgestellt - den Zweck, die Schüler oder Studenten im Gedankengebäude des geltenden Paradigmas heimisch zu machen, um sie im Hinblick auf die normale Wissenschaft möglichst effizient auszubilden. Dabei wird meist nicht auf Hinweise auf die Geschichte der jeweiligen Wissenschaft und die herausragenden Leistungen früherer Personen verzichtet, die Darstellung geschieht jedoch ebenso wie die Auswahl der vorgestellten Experimente im Hinblick auf die Erhöhung der Autorität der zugrundeliegenden Theorie.
Dies ist auch in den wissenschaftlichen Arbeiten der großen Physiker nicht anders (die damals die Funktion innehatten, die heute ein Lehrbuch einnimmt): z.B. hat Newton in seinen Principia darauf hingewiesen, bereits Galilei habe entdeckt, daß die konstante Schwerkraft eine Ortsveränderung proportional zum Quadrat der Zeit erzeugte. Tatsächlich nimmt Galileis kinematischer Lehrsatz diese Form an, wenn er in das System von Newtons eigenen dynamischen Begriffen eingebettet wird. Galilei selbst jedoch hat nichts Entsprechendes gesagt. Seine Erörterung über fallende Körper erwähnt kaum Kräfte, geschweige denn eine gleichbleibende Schwerkraft.

Betrachten wir schließlich die Kuhnsche These in ihrem eigenen Licht: Wie kommt es, daß wissenschaftliche Revolutionen innerhalb der Wissenschaftstheorie lange Zeit unbetrachtet blieben? Zum einen liegt dies sicherlich in der philosophischen Grundtradition der Wissenschaftstheorie als Geisteswissenschaft, die sich mehr mit der logischen Konstruktion und weniger mit der historischen Rekonstruktion der Wissenschaft beschäftigt. Die meisten Menschen, die sich mit Wissenschaftstheorie beschäftigt haben, waren selbst Wissenschaftler und damit durch eine paradigmatische Ausbildung der rationalen Konstruktion gegenüber besonders nahestehend. Kuhn, der zunächst als theoretischer Physiker forschte, berichtet im Vorwort zu [Ku78], daß dies in früherer Zeit auch auf ihn zutraf. Erst durch das Studium der Wissenschaftsgeschichte kamen ihm die grundlegenden Ideen zu seiner historisch fundierten Theorie.


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Tim Paehler
1998-10-04