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Folgerungen für die Didaktik der Physik

Wir wollen nun kurz die Möglichkeiten der Verwertung der Kuhnschen Wissenschaftstheorie für die Didaktik anreißen. Für ein genaueres Studium wären sicherlich die Werke Piagets und anderer Entwicklungspsychologen von Interesse.
Wie wir gesehen haben, spielen in der Kuhnschen Wissenschaftstheorie nicht nur soziologische, sondern auch psychologische Betrachtungen eine große Rolle. Es wird also nicht der Begriff der Wissenschaft als Ansammlung von mathematisch definierbaren Begriffen und logischen Operationen in den Mittelpunkt gestellt, sondern das Individuum des Wissenschaftlers und die wissenschaftliche Gemeinschaft stehen im Zentrum der Betrachtungen.
Der Bezug zur Didaktik ist dabei offensichtlich: Auch hier ist die Beziehung zwischen Mensch und Wissenschaft Hauptthema. Greifen wir also den im ersten Kapitel geäußerten Gedanken wieder auf, daß die Entwicklungsgeschichte der Gesellschaft mit der Entwicklungsgeschichte des Individuums vergleichbar ist, so durchläuft auch ein einzelner Mensch in seiner Ausbildung verschiedene Paradigmen. In der Physik findet dies z.B. im Wechsel vom newtonschen zum einsteinschen oder quantenmechanischen Weltbild statt, die in der Regel aufeinanderfolgend gelehrt werden. Dabei muß zwar im Hinblick auf die normalwissenschaftliche Ausbildung bemerkt werden, daß von der Newtonschen Sicht nur der Teil übernommen wird, der im Hinblick auf die heutige Physik Gültigkeit behalten hat (das ursprüngliche Newtonsche Paradigma erstreckte sich auf einen viel größeren Bereich als die Mechanik) Empfunden wird die Einführung von Quantenmechanik und Relativitätstheorie jedoch sicherlich als Änderung der Grundlagen. Ebenso dürfte die Einführung der newtonschen Physik in der Schule einem vorher in Mechanik ungebildeten Schüler zunächst Probleme bereiten, da entweder ein vorheriges Weltbild (welches etwa ein intuitives Äquivalent zur aristotelischen Physik darstellen könnte) zerstört werden muß oder zumindest einzelne widersprechende Empfindungen aus der alltäglichen Erfahrung (z.B. die Notwendigkeit einer Kraft zur Aufrechterhaltung einer Geschwindigkeit) von Seiten des Schülers neu bewertet werden müssen.

Es stellt sich nun die Frage, inwieweit die Ausbildung zur normalen Wissenschaft gewünscht ist. D.h. werden die Inhalte einer Theorie als so selbstverständlich wie möglich dargestellt, so daß unkompliziertes Arbeiten mit ihnen möglich ist und der Schüler/Student sich schnell in dem Theoriegebäude heimisch fühlt und es sicher anwenden kann? Oder soll bei jedem Lernschritt reflektiert werden, ob das angewandte Verfahren überhaupt sinnvoll ist und ob es andere mögliche Arbeitsweisen gibt? Die Frage kann natürlich nicht eindeutig beantwortet werden, da sie von den Zielsetzungen der Lernenden abhängt.
Für eine Ausbildung zum Forscher innerhalb einer klar definierten Disziplin bietet sich sicherlich das Erlernen der normalwissenschaftlichen Tätigkeit an. Steht jedoch die Allgemeinbildung des Schülers im Vordergrund, sollte vermehrt Gewicht auf eine metaparadigmatische Sicht gelegt werden, die die Wichtigkeit konkreter Ergebnisse (etwa die Berechnung von Planetenbahnen nach den Newtonschen Regeln) gegenüber der phänomenologischer Betrachtungen (z.B. die Entwicklung des Massenbegriffs von Newton zu Einstein) zurückstellt. Dies hätte z.B. für die Praxis zur Folge, daß ein Leistungskurs gegenüber einem Grundkurs nicht nur ein größeres Ausmaß an Stoff präsentiert bekäme, sondern daß die Art der Darstellung eine spürbar andere sein müßte (wobei die These, daß ein Leistungskurs Physik in erster Linie zum naturwissenschaftlichen Studium hinleiten soll, sicherlich zu überprüfen wäre). Im Sinne der Schulung des kritisch-reflektierenden Denkens und Handelns beim Lernenden ist jedoch - und damit kehren wir zu der anfänglich formulierten These zurück - ein gewisser metaparadigmatischer Anteil in der Ausbildung unabdingbar. Insofern darf die historische Sicht einer Wissenschaft zu ihrem tieferen Verständnis nicht fehlen.


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Tim Paehler
1998-10-04