Damit kennzeichnet Popper Wissenschaft als einen fortlaufenden akkumulativen
Prozeß, in dem neue Theorien hervorgebracht, diese durch zahlreiche
Experimente ausgetestet werden und schließlich durch neue Theorien erweitert
werden, deren Anwendungsgebiet eine echte Obermenge des Gebiets der vorherigen
bildet. Die Tätigkeit eines Wissenschaftlers stellt sich dar als das
Bemühen, eine Theorie durch Überprüfung und Widerlegung zu erweitern.
Dieser Begriff der Wissenschaft ist in etwa der, der in wissenschaftlichen
Lehrbüchern vermittelt wird, und es verwundert nicht, daß die von Popper
vertretene Philosophie als Kritischer Rationalismus bezeichnet wird.
Eine Frage, die sich nun im Zusammenhang mit der historischen Betrachtung
ergibt, ist die Folgende: Bestätigt die
Wissenschaftsgeschichte (sie ist ja gewissermaßen die ``experimentelle
Überprüfung'' der Wissenschaftstheorie) diese Theorie, oder sind
rationale Rekonstruktion und Falsifikationismus ahistorisch? Wenn
letzteres der Fall ist, kann der Falsifikationismus bestenfalls noch
als Idealisierung angesehen werden und muß durch eine andere Theorie
ersetzt werden.
Wir werden uns im folgenden mit den historischen Untersuchungen Kuhns
beschäftigen, deren Ergebnis die oben genannten Vorstellungen von
Wissenschaft revolutioniert. Dazu müssen wir aber zunächst einen
aussagekräftigen Zeitraum der Wissenschaftsgeschichte - gewissermaßen als
Musterbeispiel - betrachten.