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Kommunikation als Konstruktion von Wirklichkeit

Wie man erkennt, müssen Kommunikationspartner in kurzer Zeit ein großes Ausmaß an Informationen wahrnehmen und auswerten. Dabei spielen ihre jeweiligen Reaktionen bereits eine entscheidende Rolle für den Fortgang des Gesprächs. Watzlawick hat dies in [#!Wa76!#] dahingehend auf den Punkt gebracht, daß er den Begriff `Wirklichkeit' als Ergebnis von Kommunikation erklärt. In der Sprache der nichtlinearen Dynamik: Es wird durch den beidseitigen Rückkopplungsprozeß (`Ich weiß, daß er weiß, daß ich weiß...') ein stabiler (also die Komplexität der Möglichkeiten auf eine einzige reduzierender) Zustand erzeugt, der sich in das System der beiden Kommunikanden einpaßt. Zu einem entsprechenden Ergebnis kommt auch Luhmann:

`... Das heißt, das System interpretiert die Welt selektiv, überzieht die Information, die es erhält, reduziert die äußerste Komplexität der Welt auf einen Umfang, an dem es sich sinnvoll orientieren kann, und gewinnt dadurch erst stukturierte Möglichkeiten eigenen Erlebens und Verhaltens. Die Reduktion kann intersubjektiv übereinstimmend erfolgen und führt dann zu Ergebnissen, die sozial garantiert sind und deshalb als ``wahr'' erlebt werden.'38


 
Abbildung 5: Kommunikation als Konstituierung intersubjektiver Wirklichkeit.
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Natürlich kann diese Wirklichkeit nicht völlig losgelöst von `objektiven Fakten' (z.B. physikalischer Gegebenheiten) entstehen. Deshalb kann diese Wirklichkeit auch in Abgrenzung zu diesen Fakten als `Wirklichkeit zweiter Ordnung'39 bezeichnet werden. Ihre Bedeutung für die Interpretation der Wirklichkeit erster Ordnung wird im allgemeinen aber unterschätzt. So hat Thomas Kuhn in [#!Ku69!#] festgestellt, daß die exakten Wissenschaften keineswegs nach streng rationalen Gesichtspunkten fortschreiten (wie z.B. Karl Popper dies proklamierte), sondern eher nach soziologischen und psychologischen.40
Weitere Hinweise auf das Verhältnis zwischen Wirklichkeit erster und zweiter Ordnung liefern Experimente, die Individuen vor die Wahl zwischen Gruppenzugehörigkeit (also Aufrechterhaltung eines kommunikativen Konsenses) und bewußter Wahrnehmungsstörung stellen.41 Ein dauerhaftes Ausgesetztsein dieser Spannung zwischen Wirklichkeit erster und zweiter Ordnung führt zu schweren Wahrnehmungsstörungen, namentlich zum klinischen Bild der Schizophrenie:

`Von besonderer klinischer Bedeutung sind schließlich alle jene Situationen, in denen eine Person in der einen oder anderen Weise gezwungen wird, ihre Wahrnehmungen auf der Inhaltsstufe zu bezweifeln, um eine für sie wichtige Beziehung nicht zu gefährden.'42

Die kommunikative Wirklichkeit und ihre (subjektive) Übereinstimmung mit der Wahrnehmung der Teilnehmer ist also nicht nur ein Effekt von zwangloser, herrschaftsfreier Kommunikation, sondern eine Notwendigkeit für die geistige Gesundheit des Individuums.


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Tim Paehler
1999-03-23