`... Das heißt, das System interpretiert die Welt selektiv, überzieht die
Information, die es erhält, reduziert die äußerste Komplexität der Welt
auf einen Umfang, an dem es sich sinnvoll orientieren kann, und gewinnt
dadurch erst stukturierte Möglichkeiten eigenen Erlebens und Verhaltens.
Die Reduktion kann intersubjektiv übereinstimmend erfolgen und führt dann
zu Ergebnissen, die sozial garantiert sind und deshalb als ``wahr'' erlebt
werden.'38
Natürlich kann diese Wirklichkeit nicht völlig losgelöst von `objektiven
Fakten' (z.B. physikalischer Gegebenheiten) entstehen. Deshalb kann diese
Wirklichkeit auch in Abgrenzung zu diesen Fakten als `Wirklichkeit zweiter
Ordnung'39 bezeichnet
werden.
Ihre Bedeutung für die Interpretation der Wirklichkeit erster Ordnung wird
im allgemeinen aber unterschätzt. So hat Thomas Kuhn in [#!Ku69!#]
festgestellt, daß die exakten Wissenschaften keineswegs nach streng rationalen
Gesichtspunkten fortschreiten (wie z.B. Karl Popper dies proklamierte),
sondern eher nach soziologischen und psychologischen.40
Weitere Hinweise auf das Verhältnis zwischen Wirklichkeit erster und zweiter
Ordnung liefern Experimente, die Individuen vor die Wahl zwischen
Gruppenzugehörigkeit (also Aufrechterhaltung eines kommunikativen Konsenses)
und bewußter Wahrnehmungsstörung stellen.41 Ein
dauerhaftes Ausgesetztsein dieser Spannung zwischen Wirklichkeit erster und
zweiter Ordnung führt zu schweren Wahrnehmungsstörungen, namentlich zum
klinischen Bild der Schizophrenie:
`Von besonderer klinischer Bedeutung sind schließlich alle jene
Situationen, in denen eine Person in der einen oder anderen Weise gezwungen
wird, ihre Wahrnehmungen auf der Inhaltsstufe zu bezweifeln, um eine für
sie wichtige Beziehung nicht zu gefährden.'42
Die kommunikative Wirklichkeit und ihre (subjektive) Übereinstimmung mit der Wahrnehmung der Teilnehmer ist also nicht nur ein Effekt von zwangloser, herrschaftsfreier Kommunikation, sondern eine Notwendigkeit für die geistige Gesundheit des Individuums.