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Der Bildungsbegriff bei Hartmut v. Hentig

Hartmut v. Hentig gilt gemeinhin eher als Praktiker im Bildungsbereich, dies vor allem durch seine Federführung bei der Gründung der Bielefelder Laborschule13 und des Oberstufenkollegs14, nicht zuletzt aber auch wegen seiner praktisch orientierten Schriften zu Bildung und Schule (z.B. [#!He94!#]). Mit dem Begriff der Bildung hat er sich eingehend in einem eigenen Werk, [#!He96!#], beschäftigt, in dem er die vorrangige Bedeutung des Begriffs für sein Schaffen konstatiert.15 Der Begriff der Bildung birgt dabei für ihn die gleiche Universalität wie der v. Humboldts. Er erkennt jedoch die Tendenz, die theoretische Bedeutung des Bildungsbegriffs in der Praxis wissenschafts- und machttechnischen Denkkategorien vorzuschieben:

`Die Aufhebung falscher Gegensätze ist in der alten - vorschulischen, Humboldtschen - Auffassung von Bildung möglich. Es sind ganz allgemein drei Figuren denkbar:
- Entweder Bildung bezeichnet das, was sich der bloßen ``Entwicklung'' der Gesellschaft, ihren daraus hervorgehenden ``Bedürfnissen'' gegenüber- und, wo nötig entgegenstellt, das, womit man s.v.v. die geistige und moralische ``Führung'' übernimmt oder zu übernehmen sich bemüht, das, was uns gegen die utitilitäre Vereinnahmung stärkt (Hans Freyers ``gegenhaltende Kräfte'' kommen einem dabei in den Sinn),
- oder ``Bildung'' ist ein Spuk, eine Zweckbehauptung, eine Ideologie, ein Überbau und hat den harten Instrumenten gesellschaftlicher Aufklärung zu weichen: der Nutzen bringenden, Schäden aufdeckenden, Kosten sparenden, Risiko vorhersagenden Wissenschaft, einer spezialisierten Berufsausbildung und sozialpsychologischen Verfahren,
- oder Bildung bezeichnet selbst die Spannung oder Brücke zwischen den beiden ersten - zwischen tradierten Idealen und aktuellem Kompetenzbedarf, zwischen philosophischer Selbstvergewisserung und praktischer Selbsterhaltung der Gesellschaft. Ich hätte auch - mit Platons großem Gleichnis - sagen können: Bildung ist beides Aufstieg ans Sonnenlicht und Abstieg in die Höhle. Das eine ist ohne das andere sinnlos und unbekömmlich.
Daß ich für diese dritte Figur bin (ob nun mit Humboldt oder ohne ihn, aber gewiß nicht gegen ihn), ist nach allem Gesagten selbstverständlich. Die beiden anderen Figuren sind respektabel und mit guten Gründen vertretbar. Nicht hinnehmbar aber ist: wenn Bildung das eine beansprucht (die Werte, die Kultur, die Verantwortung, die Mündigkeit, die Führung) und das andere betreibt (die Bedienung der Wirtschaft, die Regelung des Arbeitsmarktes, das Fitmachen für die Laufbahn, die Aufbewahrung der Kinder und die Disziplinierung der Jugendlichen).'16

Dieser längere Abschnitt enthält die erweiterte Erklärung des für v. Hentig programmatischen Ausspruchs `Die Menschen stärken und die Sache klären'.17 Ich will nun versuchen das Zitierte in die eingangs gewählte Begriffsbildung zu übersetzen. Bildung muß notwendigerweise die Verbindung des Individuums mit `Welt' bewirken. Es stellt sich nun die Frage, welche Art von Welt dies sein soll: die Gesellschaft als in erster Linie kommunikative, das Individuum als teilnehmendes Subjekt anerkennde Institution (intersubjektive Wirklichkeit) - oder aber die Welt vor allem als wissenschaftlich festgelegte Objektivierung und Partitionierung, innerhalb derer die Wechselwirkung vor allem durch Beherrschung und Instrumentalisierung stattfindet (objektive Wirklichkeit). Diese widersprechenden Formen, die den ersten beiden Punkten in v. Hentigs Äußerungen entsprechen, werden nun in einer Synthese vereint: Bildung muß einerseits die Auseinandersetzung mit - und die Befähigung zu - objektivierten Sichtweisen, andererseits auch die reflexive Betätigung in der Gesellschaft als Subjekt fordern und fördern. Dabei soll die Auseinandersetzung mit wechselseitiger Wirkung vollzogen werden: Der (sprachliche wie zweckhafte) Grundsinn von Bildung ist: `Formen und (reflexiv) Sich-Formen'.18 Diese Formulierung ist (sicherlich nicht zufällig) der Humboldtschen sowie der Definition der Bildungskommission in dieser Lesart äquivalent und auch in der in Deutschland vorherrschenden bildungstheoretischen Didaktik unbestritten. Als ausgewiesener Praktiker liefert v. Hentig aber gleich den Hinweis auf die Gefahr mit, die der Umsetzung des Bildungsbegriffs vor allem von Seiten der Wissenschaft und der Wirtschaft droht: Die Betonung der kulturellen Einweisung dient als vorgeschobenes Motiv für die Einrichtung vorwiegend instrumenteller (objektivierter) Strukturen im Bildungsbetrieb. Wir werden auf diese Gefahr (deren Behandlung der Beantwortung von Frage 2 (d) entspricht) bei der Überprüfung der praktischen Belange zurückkehren.

Die Frage nach Sein und Sollen beantwortet v. Hentig - wie obiges erwarten läßt - ebenfalls in ähnlicher Weise wie die Bildungskommission. Zwei seiner vierzehn Thesen, die den Kern von [#!He96!#] bilden, lauten: `Der Mensch bildet sich'19 und `Das Leben bildet'20. Darin wird die Verschränkung von individuellem und gesellschaftlichem Interesse als Ziel formuliert und damit die jeweilige Erkenntnis von Individuum und Gesellschaft zu den maßgeblichen Momenten seiner Beurteilung gemacht:

`[...] das Ziel ist die sich selbst bestimmende Individualität - aber nicht um ihrer selbst willen, sondern weil sie als solche die Menschheit bereichert.'21


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Tim Paehler
1999-04-07