`Die Aufhebung falscher Gegensätze ist in der alten - vorschulischen,
Humboldtschen - Auffassung von Bildung möglich. Es sind ganz allgemein
drei Figuren denkbar:
- Entweder Bildung bezeichnet das, was sich der bloßen ``Entwicklung'' der
Gesellschaft, ihren daraus hervorgehenden ``Bedürfnissen'' gegenüber- und,
wo nötig entgegenstellt, das, womit man s.v.v. die geistige und moralische
``Führung'' übernimmt oder zu übernehmen sich bemüht, das, was uns gegen die
utitilitäre Vereinnahmung stärkt (Hans Freyers ``gegenhaltende Kräfte''
kommen einem dabei in den Sinn),
- oder ``Bildung'' ist ein Spuk, eine Zweckbehauptung, eine Ideologie, ein
Überbau und hat den harten Instrumenten gesellschaftlicher Aufklärung zu
weichen: der Nutzen bringenden, Schäden aufdeckenden, Kosten sparenden, Risiko
vorhersagenden Wissenschaft, einer spezialisierten Berufsausbildung und
sozialpsychologischen Verfahren,
- oder Bildung bezeichnet selbst die Spannung oder Brücke zwischen den beiden
ersten - zwischen tradierten Idealen und aktuellem Kompetenzbedarf, zwischen
philosophischer Selbstvergewisserung und praktischer Selbsterhaltung der
Gesellschaft. Ich hätte auch - mit Platons großem Gleichnis - sagen können:
Bildung ist beides Aufstieg ans Sonnenlicht und Abstieg in die Höhle. Das
eine ist ohne das andere sinnlos und unbekömmlich.
Daß ich für diese dritte Figur bin (ob nun mit Humboldt oder ohne ihn, aber
gewiß nicht gegen ihn), ist nach allem Gesagten selbstverständlich. Die
beiden anderen Figuren sind respektabel und mit guten Gründen vertretbar.
Nicht hinnehmbar aber ist: wenn Bildung das eine beansprucht (die Werte,
die Kultur, die Verantwortung, die Mündigkeit, die Führung) und das andere
betreibt (die Bedienung der Wirtschaft, die Regelung des Arbeitsmarktes, das
Fitmachen für die Laufbahn, die Aufbewahrung der Kinder und die
Disziplinierung der Jugendlichen).'16
Dieser längere Abschnitt enthält die erweiterte Erklärung des für v. Hentig
programmatischen Ausspruchs `Die Menschen stärken und die Sache
klären'.17 Ich will
nun versuchen das Zitierte in die eingangs gewählte Begriffsbildung zu
übersetzen. Bildung muß notwendigerweise die Verbindung des Individuums mit
`Welt' bewirken. Es stellt sich nun die Frage, welche Art von Welt dies sein
soll: die Gesellschaft als in erster Linie kommunikative, das Individuum als
teilnehmendes Subjekt anerkennde Institution (intersubjektive Wirklichkeit)
- oder aber die Welt vor allem als wissenschaftlich festgelegte
Objektivierung und Partitionierung, innerhalb derer die Wechselwirkung vor
allem durch Beherrschung und Instrumentalisierung stattfindet (objektive
Wirklichkeit). Diese widersprechenden Formen, die den ersten beiden
Punkten in v. Hentigs Äußerungen entsprechen, werden nun in einer Synthese
vereint: Bildung muß einerseits die Auseinandersetzung mit - und die
Befähigung zu - objektivierten Sichtweisen, andererseits auch die reflexive
Betätigung in der Gesellschaft als Subjekt fordern und fördern. Dabei soll
die Auseinandersetzung mit wechselseitiger Wirkung vollzogen werden:
Der (sprachliche wie zweckhafte) Grundsinn von Bildung ist: `Formen und
(reflexiv) Sich-Formen'.18
Diese Formulierung ist (sicherlich nicht zufällig) der Humboldtschen sowie
der Definition der Bildungskommission in dieser Lesart äquivalent und auch
in der in Deutschland vorherrschenden bildungstheoretischen Didaktik
unbestritten. Als ausgewiesener Praktiker liefert v. Hentig aber gleich
den Hinweis auf die Gefahr mit, die der Umsetzung des Bildungsbegriffs
vor allem von Seiten der Wissenschaft und der Wirtschaft droht: Die
Betonung der kulturellen Einweisung dient als vorgeschobenes Motiv für die
Einrichtung vorwiegend instrumenteller (objektivierter) Strukturen im
Bildungsbetrieb. Wir werden auf diese Gefahr (deren Behandlung der
Beantwortung von Frage 2 (d) entspricht) bei der Überprüfung der
praktischen Belange zurückkehren.
Die Frage nach Sein und Sollen beantwortet v. Hentig - wie obiges erwarten
läßt - ebenfalls in ähnlicher Weise wie die Bildungskommission. Zwei seiner
vierzehn Thesen, die den Kern von [#!He96!#] bilden, lauten: `Der Mensch
bildet sich'19 und `Das Leben
bildet'20. Darin wird die Verschränkung von
individuellem und gesellschaftlichem Interesse als Ziel formuliert und damit
die jeweilige Erkenntnis von Individuum und Gesellschaft zu den maßgeblichen
Momenten seiner Beurteilung gemacht:
`[...] das Ziel ist die sich selbst bestimmende Individualität - aber nicht um ihrer selbst willen, sondern weil sie als solche die Menschheit bereichert.'21