Bereits in seiner Antrittsvorlesung hat Habermas das Problem des
Verhältnisses zwischen Erkenntnis und Interesse zum Thema seiner Untersuchungen
gemacht. Er konstatiert darin:
`Der Positivismus hat sich auch in den Sozialwissenschaften
durchgesetzt, gleichviel ob sie den methodischen Forderungen einer
empirisch-analytischen Verhaltenswissenschaft folgen oder ob sie
sich am Muster normativ analytischer Wissenschaften, die Handlungsmaximen
voraussetzen, orientieren.'17
Die Unvollständigkeit beider Ansätze liegen auf der Hand: Ersterer bekennt
sich zur Erkenntnis unterschlägt dabei aber ihr Interesse, bei letzterem
verhält es sich umgekehrt. Kritische Theorie bedeutet für Habermas aber die
Einheit von Erkenntnis und Interesse. Nur eine solche Theorie kann zugleich
die Gesellschaft einerseits beschreiben und andererseits auf sie einwirken,
also selbst Teil der Gesellschaft werden.
Habermas stellt zunächst fünf Thesen auf, die das naturgegebene und
geschichtliche Verhältnis von Erkenntnis und Interesse in der Gesellschaft
beschreiben:
Die letzten beiden Punkte zeigen bereits auf, welches Bild einer
Gesellschaftstheorie Habermas zu diesem Zeitpunkt vorschwebt: Eine Art
psychoanalytische Therapie auf gesellschaftlicher
Ebene.19
Ich will grob aufzeigen, wie er die weitere Konstruktion dieser Theorie
vornimmt.
Der Begriff der Rationalität hat bei dem Entwurf einer Gesellschaftstheorie
nach Habermas' Meinung eine Schlüsselfunktion inne: Eine Gesellschaftstheorie,
die allein zweckrationale - also nach dem Obigen unvollständige
- Erklärungsmodelle beinhaltet, kann die Gesellschaft nur innerhalb ihrer
theoretischen Grenzen analysieren. Aus dieser Analyse resultiert aber häufig
eine Kritik, die außerhalb dieser Theorie (auf einer Meta-Ebene)
liegt.20
Würde man den Rationalitäts-Begriff aber derart erweitern, daß die
über ihn definierten Modelle auch eben die mögliche Kritik an der
Gesellschaftstheorie mit einschließen, so könnte man eine umfassende Theorie
formulieren, die zusammen mit der Gesellschaft nach Vollständigkeit strebt.
Habermas kritisiert so z.B. Marx, Weber sowie Adorno und
Horkheimer, die eine Sicht auf die Gesellschaft liefern, die allein auf
(zweck-)rationalistischen Faktoren beruht:
`Auf der einen Seite identifizieren Marx, Weber, Horkheimer und Adorno
gesellschaftliche Rationalisierung mit dem Wachstum der instrumentellen und
strategischen Rationalität von Handlungszusammenhängen; auf der anderen Seite
schwebt ihnen, ob nun im Begriff der Assoziation freier Produzenten, in den
historischen Vorbildern ethisch rationaler Lebensführung oder in der Idee
eines geschwisterlichen Umgangs mit der wiederaufgerichteten Natur, eine
umfassende gesellschaftliche Rationalität vor, an der sich der relative
Stellenwert der empirisch beschriebenen Rationalisierungsprozesse bemißt.
Dieser umfassendere Begriff von Rationalität müßte aber auf derselben
Ebene ausgewiesen werden wie die Produktikkräfte, die Subsysteme
zweckrationalen Handelns, die totalitären Träger der instrumentellen Vernunft.
Das geschieht nicht. Den Grund dafür sehe ich einerseits in
handlungstheoretischen Engpässen: die von Marx, Max Weber, Horkheimer und
Adorno zugrunde gelegten Handlungsbegriffe sind nicht komplex genug, um an
sozialen Handlungen alle die Aspekte zu erfassen, an denen gesellschaftliche
Rationalisierung ansetzen kann.'21