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Hartmut v. Hentigs Schulkritik

Parallel zu den Reformbemühungen in NRW mahnt auch Hartmut v. Hentig in [#!He96!#] eine Reformulierung der Aufgaben und Ziele der Schule als Bildungseinrichtung sowie deren Realisierung an. Ausgehend von seinen oben behandelten Ausführungen zum Bildungsbegriff läßt sich seine Kritik am vorliegenden staatlichen Schulwesen bereits in groben Zügen ausmachen: Die Überbetonung des Wissenschaftlichen und des gesellschaftlich unmittelbar Verwertbaren. Er beruft sich dabei auf v. Humboldts These: `Die Organisation der Schule bekümmert sich [...] um keine Kaste, kein einzelnes Gewerbe, allein auch nicht um die gelehrte!'35 Die Problematik wird seiner Argumentation nach vor allem durch die Instrumentalisierung von Bildung zum Laufbahnkriterium verursacht:

`Das - von mir gern unterstellte - Bemühen von vielen Schulleuten, den Menschen durch Bildung zum Subjekt seiner Handlungen, zum Herrn über die Verhältnisse zu machen [...] wird freilich durch die vorgängige Unterwerfung unter einen bestimmten gesellschaftlichen Auftrag ausgehebelt, nämlich Ausbildungs-, Erwerbs- und soziale Aufstiegschancen zu verteilen. Dies geschieht aufgrund ausgewählter schulischer Leistungen, an denen man die künftige Leistungsfähigkeit in der Gesellschaft meint ablesen zu können. Um gerecht oder doch objektiv zu sein, beschränkt man den Nachweis auf bestimmte Gebiete, man macht sie meßbar und setzt die Schülerinnen und Schüler unter einen permanenten Erfüllungsdruck. Dadurch vernichtet man den pädagogischen Auftrag der Schule, nämlich jeden einzelnen nach seinem Vermögen zu fördern und ihn zu selbständiger Leistung zu befähigen. Man verhindert erfolgreich, daß die Schülerinnen und Schüler das Lernen in der Schule als ihre eigene Sache erkennen, eben als Bildung.'36

Die Objektivierung der Lernprozesse muß also zur Folge haben, daß vor allem dieser Bereich in den Schulen in den Mittelpunkt rückt. Die Zensur als Abbildung menschlicher Fähigkeiten in den Zahlenraum von 1 bis 6 (bzw. 0 bis 15) ist nicht in der Lage, subjektive und intersubjektive Leistungen darzustellen. Die Tatsache, daß die Zensur aber, bzw. die ihr als zugrundeliegend angenommene `Leistung' des Schülers, im Mittelpunkt der Argumentation vieler Interessenvertreter aus Wirtschaft und Wissenschaft steht, zeigt die reduktionistische Tendenz im Bildungsbereich auf, derer sich die Vermittler von Bildung, die Lehrer und die Schule, erfolgreich zu erwehren haben.37

Der `versöhnliche' Teil der Äußerungen v. Hentigs soll dagegen im Sinne von 2 (b) die Möglichkeiten zur Veränderung der faktischen Verhältnisse aufzeigen. Er wird unter der These `Die Fächer der herkömmlichen Schule sind brauchbare Anlässe für Bildung'38 zusammengefaßt. Er nimmt dabei exemplarisch eine Untersuchung der Fächer Deutsch und Mathematik vor. Letztere unterteilt er - gemäß den verschiedenen Anforderungen an das Fach - in zwei verschieden Arten von Mathematik: die rein platonische, geisteswissenschaftliche Mathematik, das Prinzip `durchgängiger Rationalität' und die angewandte, `hilfswissenschaftliche' Mathematik als Sprache der Wissenschaften. Letzterer bescheinigt er eine höhere Affinität zur Wissenschaftspropedäutik, ersterer einen höheren Gehalt an Allgemeinbildung.39 Er führt weiter aus:

`Es handelt sich nicht um zwei Formen von Mathematik, sondern um zwei auf der Ebene der Sekundarstufe II unterschiedlich lehrbare und unterschiedlich nützliche Funktionen. Dabei kann man die erste schadlos ohne die zweite lernen, die zweite aber nicht schadlos ohne die erste: Man riskiert einen philosophischen Fundamentalirrtum. Die Natur und viele menschliche Ereignisse lassen sich vermessen - aber die Größen, die man dabei gewinnt, sind nicht die Eigenschaften der Sache oder der Sachlage, sondern die menschliche Weise, sie brauchbar festzuhalten: an einer dafür oder dadurch definierten Beziehung.'40

V. Hentig erklärt also an dieser Aufteilung der Mathematik einerseits exemplarisch die Notwendigkeit der Allgemeinbildung als Basis für Wissenschaftspropedäutik, andererseits die rein funktionalistische Natur der Anwendung von Mathematik: Wissenschaft ist eine Tätigkeit (von vielen) des Menschen, keine Äußerung der Realität. Die Betonung der zweiten, anwendungsbezogenen Lesart der Mathematik ist also erneut eine Unterordnung gegenüber dem Interesse an Objektivierbarkeit. Spielerei mit mathematischen Begriffen41, das über ihre Anwendung hinausgehende Verstehen (wie es auch im Lehrplan für Mathematik gefordert wird durch das Konzept des `ideenorientiertem' Unterrichts42) ist aber notwendig, um einen Zugang des Individuums zum Lernstoff zu gewinnen, wenngleich sich aus diesem keinerlei direkt meßbarer Lernfortschritt ergibt.


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Tim Paehler
1999-04-07