`Das - von mir gern unterstellte - Bemühen von vielen Schulleuten, den
Menschen durch Bildung zum Subjekt seiner Handlungen, zum Herrn über die
Verhältnisse zu machen [...] wird freilich durch die vorgängige Unterwerfung
unter einen bestimmten gesellschaftlichen Auftrag ausgehebelt, nämlich
Ausbildungs-, Erwerbs- und soziale Aufstiegschancen zu verteilen. Dies
geschieht aufgrund ausgewählter schulischer Leistungen, an denen man die
künftige Leistungsfähigkeit in der Gesellschaft meint ablesen zu können.
Um gerecht oder doch objektiv zu sein, beschränkt man den Nachweis auf
bestimmte Gebiete, man macht sie meßbar und setzt die Schülerinnen und
Schüler unter einen permanenten Erfüllungsdruck. Dadurch vernichtet man den
pädagogischen Auftrag der Schule, nämlich jeden einzelnen nach seinem
Vermögen zu fördern und ihn zu selbständiger Leistung zu befähigen. Man
verhindert erfolgreich, daß die Schülerinnen und Schüler das Lernen in der
Schule als ihre eigene Sache erkennen, eben als
Bildung.'36
Die Objektivierung der Lernprozesse muß also zur Folge haben, daß vor allem
dieser Bereich in den Schulen in den Mittelpunkt rückt. Die Zensur als
Abbildung menschlicher Fähigkeiten in den Zahlenraum von 1 bis 6 (bzw. 0
bis 15) ist nicht in der Lage, subjektive und intersubjektive Leistungen
darzustellen. Die Tatsache, daß die Zensur aber, bzw. die ihr als
zugrundeliegend angenommene `Leistung' des Schülers, im Mittelpunkt der
Argumentation vieler Interessenvertreter aus Wirtschaft und Wissenschaft
steht, zeigt die reduktionistische Tendenz im Bildungsbereich auf, derer
sich die Vermittler von Bildung, die Lehrer und die Schule, erfolgreich
zu erwehren haben.37
Der `versöhnliche' Teil der Äußerungen v. Hentigs soll dagegen im Sinne
von 2 (b) die Möglichkeiten zur Veränderung der faktischen Verhältnisse
aufzeigen. Er wird unter der These `Die Fächer der herkömmlichen Schule
sind brauchbare Anlässe für Bildung'38
zusammengefaßt. Er nimmt dabei exemplarisch eine Untersuchung der Fächer
Deutsch und Mathematik vor. Letztere unterteilt er - gemäß den verschiedenen
Anforderungen an das Fach - in zwei verschieden Arten von Mathematik:
die rein platonische, geisteswissenschaftliche Mathematik, das Prinzip
`durchgängiger Rationalität' und die angewandte, `hilfswissenschaftliche'
Mathematik als Sprache der Wissenschaften. Letzterer bescheinigt er eine
höhere Affinität zur Wissenschaftspropedäutik, ersterer einen höheren
Gehalt an Allgemeinbildung.39
Er führt weiter aus:
`Es handelt sich nicht um zwei Formen von Mathematik, sondern um zwei auf der
Ebene der Sekundarstufe II unterschiedlich lehrbare und unterschiedlich
nützliche Funktionen. Dabei kann man die erste schadlos ohne die zweite
lernen, die zweite aber nicht schadlos ohne die erste: Man riskiert einen
philosophischen Fundamentalirrtum. Die Natur und viele menschliche Ereignisse
lassen sich vermessen - aber die Größen, die man dabei gewinnt, sind nicht
die Eigenschaften der Sache oder der Sachlage, sondern die menschliche Weise,
sie brauchbar festzuhalten: an einer dafür oder dadurch definierten
Beziehung.'40
V. Hentig erklärt also an dieser Aufteilung der Mathematik einerseits exemplarisch die Notwendigkeit der Allgemeinbildung als Basis für Wissenschaftspropedäutik, andererseits die rein funktionalistische Natur der Anwendung von Mathematik: Wissenschaft ist eine Tätigkeit (von vielen) des Menschen, keine Äußerung der Realität. Die Betonung der zweiten, anwendungsbezogenen Lesart der Mathematik ist also erneut eine Unterordnung gegenüber dem Interesse an Objektivierbarkeit. Spielerei mit mathematischen Begriffen41, das über ihre Anwendung hinausgehende Verstehen (wie es auch im Lehrplan für Mathematik gefordert wird durch das Konzept des `ideenorientiertem' Unterrichts42) ist aber notwendig, um einen Zugang des Individuums zum Lernstoff zu gewinnen, wenngleich sich aus diesem keinerlei direkt meßbarer Lernfortschritt ergibt.